Vortragsreihe Sommersemester 2025
Kehrseite der Vernunft? Wahnsinn und Aufklärung
Das Problem des Wahnsinns, das seit der Antike in der Philosophie und der Medizin u.a. als Manie und göttliche Ekstase diskutiert wurde, erlangte in der frühen Neuzeit und der Aufklärung neue Bedeutung. Zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert kam es in verschiedenen europäischen Ländern zu einer Vervielfältigung von literarischen Gattungen, die ihre Aufgabe in der Diagnose und Heilung der Seele sahen: Abhandlungen über die Fähigkeiten und Leidenschaften des Geistes, medizinische Bücher, pädagogische Abhandlungen, Trosttraktate, Werke der christlichen Seelsorge, Rhetoriken, therapeutische Logiken, Ethiken und Ästhetiken. Ein solches Wissensgebiet ist theoretisch und praktisch zugleich und wirft Fragen auf, die die institutionellen und disziplinären Grenzen überschreiten. Was verstehen wir unter „Seelenkrankheit“ in einer Zeit, in der die Philosophie und die „spirituelle Physik“ die Behandlung psychischer Leiden zunehmend an die medizinische Wissenschaft delegieren? Was bedeutet die Psychologisierung des Wahnsinns im Zeitalter der Professionalisierung der Psychiatrie? Was ist das Erbe dieses Wandels in den heutigen Vorstellungen von psychischer Störung? Die Vortragsreihe hinterfragt die Konzeptualisierung des Wahnsinns als privilegiertes Terrain für das Verständnis sowohl der Prozesse der Marginalisierung und der sozialen Unterdrückung von Devianz als auch der Neudefinition des Wissens, das mit dem Wahnsinn umzugehen sucht. In dieser Perspektive wird der Wahnsinn zu einem unverzichtbaren Lackmustest für das Verständnis des sogenannten Zeitalters der Vernunft.
Wiss. Leitung: Dr. Alessandro Nannini (IZEA)
Ort: IZEA, Christian Thomasius-Zimmer, 18 Uhr c.t.
Die Vorträge im Einzelnen:
28. April 2025: Prof. Dr. Stefanie Buchenau (Universität Paris 8): Kant über Gemütskrankheiten
Die Referentin ist Professorin für deutsche und europäische Geistesgeschichte. Schwerpunkt auf dem Verhältnis zwischen Medizin und Philosophie in der Aufklärung, Autorin u.a. des Buches Entre Medicina e Filosofia. Sulzer, Herder, Kant, Maimon (2020).
12. Mai 2025: Doz. Dr. Daniela Tinková (Universität Prag): Criminals, sinners, lunatics? The bodies and souls of suicides in the medical discourse and before the courts in Bohemia in the Age of Reason (18th - early 19th century)
Die Referentin ist Außerplanmäßige Professorin am Institut für böhmische Geschichte der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität in Prag. Ehemalige Präsidentin der Tschechischen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts (2009-2017). Mitbegründerin der Zeitschrift der Tschechischen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts, deren Chefredakteurin sie war und ist (2011-2017; 2024-). Sprecherin des Projekts: Anatomy of Suffering Soul: From Passions of Soul to Psychiatric Clinic in Czech Lands, 1770-1914.
2. Juni 2025: Prof. Dr. Dr. Carlos Watzka (Siegmund Freud Univ. Wien; Linz): Seelenleid und Unvernunft im Österreich des 17. und 18. Jahrhunderts – Diskurse und Praktiken der Psychopathologie zwischen Thomismus und Josephinismus
Der Referent ist Professor am Department für Psychotherapiewissenschaft der Sigmund Freud Privatuniversität in Linz; er forscht zur Sozial- und Kulturgeschichte des psychischen Krankseins in der Frühen Neuzeit. Autor u.a. von Vom Hospital zum Krankenhaus. Zum Umgang mit psychisch und somatisch Kranken im frühneuzeitlichen Europa (2005).
23. Juni 2025: Prof. Dr. Petteri Pietikäinen (Universität Oulu): Makes No Sense at All: The Question of Irrationality in Early 19th Century Mental Medicine
Der Referent ist Professor für Wissenschafts- und Ideengeschichte. In den letzten 13 Jahren hat er sich hauptsächlich mit der Geschichte des Wahnsinns, der Psychiatrie und der abnormalen Psychologie beschäftigt. Autor u. a. von Madness. A History, Routledge, 2015.