DGEJ-Jahrestagung, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 13.–15.9.2022
Organisation: Frank Grunert (Halle), Sigrid G. Köhler (Tübingen), Claudia Nitschke (Durham)
Im Zuge des 18. Jahrhunderts wird die Welt zunehmend als transnationaler Kommunikations- und geopolitischer Handlungsraum beschrieben und verstanden. Trotzdem wurden Rassismus, Kolonialismus und Versklavung im 18. Jahrhundert lange nicht als ‚deutsches Thema‘ verhandelt, da mit Ausnahme der kurbrandenburgischen Kolonie Groß Friedrichsburg (1683–1717) die deutschen Territorialstaaten im 18. Jahrhundert nicht in vergleichbarer Weise wie Frankreich, die Niederlande oder Großbritannien auf der Makroebene als Akteure beteiligt waren. Tatsächlich aber zeigt sich auf der Mikroebene eine sehr weitreichende Beteiligung der deutschen Bevölkerung, die etwa als Kaufleute, direkte oder indirekte Investoren, als rekrutierte Handwerker und/oder nicht zuletzt als Konsument:innen im transatlantischen Handelsdreieck involviert waren. Das Alte Reich erweist sich dabei als eng mit den globalen Handels- und Akteursnetzwerken verbunden, sowohl durch Warenströme als auch durch transnationale, z.T. erzwungene Migration: Neben den sogenannten Hofmohren, d.h. den aus afrikanischen Heimatländern verschleppten Menschen, sind auch im Anschluss an den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg Schwarze Menschen nach Deutschland gekommen, die auf britischer Seite gekämpft hatten; zudem haben deutsche Missionswerke Schwarze Menschen in Deutschland für die Mission in Afrika ausgebildet. Die Präsenz Schwarzer Menschen in Deutschland war daher sehr viel verbreiteter als bis vor kurzem noch angenommen wurde.
Diskursiv manifestiert sich der transnationale Kommunikationsraum und die damit verbundene Wahrnehmung und Kategorisierung von Menschen ebenfalls auf unterschiedlichen Ebenen: in der Rezeption und Verarbeitung ethnographischen Wissens, das vor allem über Reiseberichte seinen Weg in die Wissenschaft findet, nicht zuletzt in die sogenannten Rassentheorien, aber auch in geschichtsphilosophische Projekte; politisch in der Rezeption und Diskussion der transnationalen Abolitionsbewegung (einschließlich ihrer Konsequenzen für die Debatte um Leibeigenschaft im Alten Reich) und schließlich medial in Form kontinuierlicher Journalberichterstattung und medialer Stoffzirkulation, die sich wiederum in der Literatur und in unzähligen literarischen Adaptionen zeigt. Die Wahrnehmung von nicht-weißen Menschen, die Reflexion von wahrgenommenen Differenzen, deren Wertung und Verarbeitung prägt in der deutschen Aufklärung maßgeblich die Wissenskulturen, Kommunikationsmedien und Kunstformen, d.h. die Praktiken und die epistemischen Diskurse, und schließlich die Selbstwahrnehmung und -beschreibung von Europäer:innen als weiße Menschen.
Im Rahmen der Tagung sollen diese neuen, im Spannungsfeld zwischen Globalität und Lokalität hervorgebrachten Praktiken, Diskurse und Episteme der deutschen Aufklärung in den Blick genommen werden: Wie wird die Wahrnehmung von und der Umgang mit Schwarzen Menschen artikuliert, analysiert und axiologisch verortet? Wie wird die Differenzerfahrung verarbeitet bzw. etabliert? Wie wird als Konsequenz im Alten Reich Zugehörigkeit entworfen und Weißsein konstruiert? Wie lässt sich das Verhältnis dieser Praktiken und epistemischen Diskurse beschreiben? Wie prominent und diskursbegründend sind die emergierenden Rassenparadigmen? Und schließlich: Wie wird dieses Wissen in die Alltagspraktiken im 18. Jahrhundert übersetzt?
Ziel der interdisziplinären Tagung ist es, den aktuellen Forschungsstand aus den unterschiedlichen Disziplinen wie Philosophie, Geschichte, Literatur- und Kulturwissenschaft, Kunstgeschichte, Theologie, Rechtswissenschaft etc. dialogisch zusammenzuführen und auf Basis des geschilderten Spannungsverhältnisses von Empirie und Epistemologie weiterführende Perspektiven zu entwickeln, die vor allem die folgenden Aspekte betreffen:
1) Rassetheorien und ihr Wechselverhältnis zu normativen Ordnungen und Epistemen/Weltwissen
2) Präsenz und Biographien Schwarzer Menschen im Alten Reich
3) Praktiken des Alltags: Versklavung, Dienerschaft, polizeiliche Verwaltung etc. im Alten Reich
4) Wider das Zeitgeistargument: Anti-Rassismus und Rassismuskritik im 18. Jahrhundert
Die Tagung ist als Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts geplant und wird vom 13.9. bis 15.9.2023 in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel stattfinden. Die Organisator:innen bewerben sich um eine Tagungsförderung, so dass Reise- und Übernachtungskosten aller Voraussicht nach erstattet werden können.
Themenvorschläge mit Abstract (ca. 250 Wörter) und Kurzbiographie bitte bis zum 21.10.2022 an Frank Grunert (frank.grunert(at)izea.uni-halle.de), Sigrid G. Köhler (sigrid.koehler(at)uni-tuebingen.de), Claudia Nitschke (claudia.nitschke(at)durham.ac.uk).
Das IZEA gehört zur Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und befasst sich als Forschungseinrichtung zur Kultur- und Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts mit der Aufarbeitung einer Epoche, in der die Fundamente der modernen westlichen Gesellschaften gelegt wurden.
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